Wer einen Marathon schafft, kommt auch bei einem Ultramarathon ans Ziel.
Ich stand am Start des Western States 100 Ultramarathons und war ziemlich nervös. Immer wieder fragte ich mich: warum? Dass man sich das fragt, ist wohl unausweichlich in dieser Situation.
Warum soll man sich an einem Ultramarathon versuchen?
Während der Trainingsvorbereitung dachte ich, dass es mir auf perverse Weise Spaß machen würde. In den vergangenen 15 Jahren war ich ein durchaus ambitionierter Läufer, der immer im breiten
Mittelfeld ins Ziel kam, auch bei einigen Marathons. Meine Motivation beziehe ich aus dem Bedürfnis, meine physischen und psychischen Grenzen auszuloten.
Hochgefühle? Für mich sind das Abfallprodukte von Erschöpfung. Was also hat mich hierher nach Kalifornien getrieben, um quasi vier Marathons in Folge zu bestreiten, den größten Teil davon auf
felsigen Pfaden durch Hochgebirge mit tiefen Schluchten und teils dichtem Wald? Einen 100-Meilen-Lauf zu absolvieren und dabei innerhalb des 24-Stunden-Limits ins Ziel zu kommen – das schien
mir als neue große Herausforderung gut genug. Eine stichhaltige Erklärung, warum man sich so etwas antut, würde wohl später folgen, dachte ich, wenn ich dieses Experiment hinter mir
hätte.
Die Strecke begann mit einer 4,7 Meilen (rund 8 Kilometer) langen, schweren Steigung hinauf in die Sierra Nevada, wo selbst im Juni der Schnee noch dick lag. Ich nahm mir Zeit und fiel in
einen energiesparenden Wanderschritt, wie ich es aus 25 Jahren Bergwandererfahrung gewohnt bin. Ein Ultramarathon ist nicht einfach ein Lauf, auf den man sich nur im Training vorbereitet. Es
ist ein Lauf, der nahezu alles fordert, was man an sportlicher Lebenserfahrung in seinem persönlichen Gepäck mit sich führt.
Wandern ist nichts Ungewöhnliches in einem Wettkampf, bei dem ich 14 Minuten für eine Meile (8:45 Minuten pro Kilometer) brauchte, um ihn in der Sollzeit zu beenden. Meine Füße waren
klitschnass vom Stapfen durch den Schnee, und nach 10 Meilen hatte ich ausgewachsene Blasen. Hier in Kürze, was man gegen Blasen tun kann, wenn man noch 90 Meilen vor sich hat: nichts. Worauf
man bei einem Ultra in jedem Fall zählen kann, ist ein ständig nagender Schmerz – der gehört einfach dazu.
Entscheidend ist, wie man damit umgeht. Ich akzeptierte, dass meine Füße am Ende wie Hamburger aussehen würden, und versprach ihnen, dass sie am nächsten Morgen mit superweichen Hotelslippern
verwöhnt würden. Sie gaben schließlich nach und fielen nach einigen Meilen in eine Art stoische Taubheit.
Das erste Drittel der Strecke führte durch Schluchten, in denen die Fahrenheit-Temperatur dreistellig wurde (um die 40 Grad Celsius). Auf die Steigungen und die Hitze hatte ich mich mit
einem Trip durch den mexikanischen Copper Canyon vorbereitet. In einem gottverlassenen Dorf traf ich Juan Herrera. Der kam 1994 in die USA und gewann auf Anhieb den Leadville Trail 100
Ultramarathon in der Rekordzeit von 17,5 Stunden.
Der Unterschied zwischen 42 und 100 km ist geringer als der zwischen 10 und 42 km.
Ich erzählte ihm in meinem fürchterlichen Spanisch, dass ich vorhätte, einen 100-Meilen-Ultramarathon zu laufen, und bat ihn um Rat. Herrera zog sich ein Paar alte Tennisschuhe an und führte
mich in einem zweistündigen Lauf durch die Hitze der Wüste, die sich hinter dem Ort auftat. Er führte mir eine seltsame Atemtechnik vor, bei der durch die Nase ein- und durch den Mund
ausgeatmet wird, und die auf mich irgendwie beruhigend wirkte, ähnlich wie eine Yogaübung. Nun, auf dem Weg durch die Schluchten des Western State 100, wanderten meine Gedanken zurück zu
Herrera, und die Erinnerung an den Lauf mit ihm beflügelte meine Beine.
Die erste Marathondistanz lief ich locker durch und auch die zweite, Stunde um Stunde, bis das Laufen sich völlig normal anfühlte. Bäume, Berge, Seen zogen an meinem inneren Fenster vorbei.
Die Streckenhälfte erreichte ich nach etwa 12 Stunden. Das bedeutete, dass ich noch mal 50 Meilen (80 Kilometer) laufen musste, ohne langsamer zu werden.
Unmöglich, dachte ich. Doch nach 62 Meilen (100 Kilometer) stand meine Schwester Diana an der Strecke. Als erfahrene Läuferin sollte sie mich auf dem letzten Streckenteil durch die Nacht bis
ins Ziel begleiten. Meine Schwester war der ideale Partner. Einerseits konnte sie ausschweifend Geschichten erzählen, die mehrere Meilen dauerten, zum anderen war sie eine energische
Antreiberin, wenn ich mich am liebsten auf der Stelle zum Schlafen hingelegt hätte. Ein langer Lauf durch die Nacht ist eine ideale Methode, geschwisterliche Verbundenheit zu praktizieren,
fand ich.
Nach 75 Meilen (120 Kilometer) begann mein Körper zuzumachen: Ich konnte kaum noch sprechen, essen oder gar einen Gedanken fassen. Mein Rücken schmerzte, die Gelenke knirschten. Und immer
noch war das Ziel eine Marathondistanz entfernt. Doch immerhin war ich noch in der Lage, in bescheidenem Maße einen Fuß vor den anderen zu setzen. Also bewegte ich mich vorwärts, immer dem
fahlen Lichtkreis von Dianas Lampe hinterher. In einer eigenartig losgelösten Stimmung – fast eine Art Euphorie, von Erschöpfung keine Spur – lief ich über die schmalen Pfade durch die
Nacht, eine letzte Steigung hinauf und dann die paar ekstatischen Schritte auf der Laufbahn einer Highschool ins Ziel. Meine Zeit: 23 Stunden, 48 Minuten.
Kaum über der Ziellinie schwor ich mir, nie wieder so weit zu laufen – ein Versprechen, das ich bis heute nicht brechen wollte. Und doch war ich von tiefem Glück erfüllt. Im Lauf eines
einzigen Tages habe ich meine sämtlichen Schwächen und Fähigkeiten durchlebt. Die Nebenprodukte meines Lauferlebnisses – beharrliche Geduld, erweiterte Grenzen der Ausdauer, nicht für
möglich gehaltene Energiereserven – trugen zur Verbesserung sowohl meines Läufer- als auch meines übrigen Lebens bei. Meine Konzentrationsfähigkeit im Job verbesserte sich ebenso wie der
Nacht-für-Nacht-Stress mit einem Neugeborenen. Auf einem kleinen, aber wichtigen Level fühlte ich mich wie verwandelt.
Warum also einen Ultramarathon laufen? Meine Antwort: weil es sich so verdammt gut anfühlt, das Ziel zu erreichen.